Wer nach Christina Applegate auf Youtube sucht, der erhält als Treffer unter anderem Videos, die Titel wie "Kelly Bundy Full Legs Compilation" tragen. In den Clips sieht man dann tatsächlich nur Szenen der Serie Eine schrecklich nette Familie, in denen die Schauspielerin, meistens auf der Couch sitzend, die Beine überschlagen hat. Von denen, das kurz zur Erklärung , sah man in der Sitcom ziemlich viel, einerseits, weil es die späten Achtziger und frühen Neunziger waren, und stilvolle Kleidung gerade einen qualvollen Foltertod durch bauchfreie Tops und Hotpants erlebt hatte. Und andererseits, weil Applegates Rolle als Kelly Bundy, der sexuell frühreifen Tochter der Familie es nun einmal vorsah, dass von ihr so viel Bein und Brust zu sehen war, wie im Nachmittagsfernsehenmöglich.
Mit der Rolle der Kelly Bundy wurde Christina Applegate nicht nur groß im Sinne von berühmt, sondern auch groß im Sinne von erwachsen. Als die Sendung startete, war sie gerade fünfzehn Jahre alt. Als die Serie zehn Jahre später abgesetzt wurde, hatte Christina Applegate bewiesen, dass sie nicht nur eine sehr attraktive, sondern auch eine sehr witzige Frau sein konnte. Nur, dass sich danach niemand mehr daranerinnerte.
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Wer heute an Kelly Bundy denkt und in seinem Neunzigergedächtnis kramt, der denkt nicht gerade an die schauspielerische Qualität von Christina Applegate. Sondern an eine schrille, und, hier gibt es kein anderes Adjektiv, blonde, junge Frau, die Treppen rauf und runter läuft, um sich für das nächste Date mit dem nächsten schmierigen Typenzurechtzumachen.
Lange Zeit spielte Applegate vor allem Frauen, die sich über Männer definierten
Applegate blieb bis in die 2000er also mit der Rolle der Kelly Bundy verbunden - was nun, und das ist sehr wichtig, wenig über sie aussagt. Und sehr viel über Zeit, Zuschauer und Macher von "Eine schrecklich nette Familie". Mehrheitlich männliche Regisseure und Drehbuchautoren manifestierten damals, was sie von attraktiven, blonden Frauen hielten. Später veränderten sich die Charaktere, die Applegate spielte, wenn auch zunächst minimal: Als nervige Schwester von Rachel trat sie in Friends auf. Oberflächlich und sozial inkompetent dann als Steigbügelhalterin für Cameron Diaz in Super Süß und Super Sexy. 2002 als erste Moderatorin in einem männlichen Gruselkabinett aus Fernsehjournalisten in Anchorman.
Alles Rollen, die spüren ließen, dass Applegate mehr konnte, als ihr zugetraut wurde. Alles Rollen, die ihrem humoristischen Können vor allem seit Anchorman mehr Platz einräumten. Alles Rollen aber auch, die sie weiterhin als Frau zeigten, die sich über Männer definierte. Daran änderte die kluge Fernsehserie "Samantha Who", die nur zwei Staffeln lang überlebte, ebenso wenig, wie eine Handvoll romantischer Komödien in den vergangenen Jahren. Was im Kopf blieb beim Namen Christina Applegate war: Kelly Bundy. UndBrustkrebs.
Seit Freitag gibt es auf Netflix nun allerdings eine neue Serie, der es gelingen könnte, Christina Applegate einem jüngeren Publikum einerseits, und den älteren Zuschauern mit dem vorbelasteten Bundy-Bild die Qualität dieser Schauspielerin jenseits ihres Ausschnittes nahezubringen. In Dead to Me spielt sie die Immobilienmaklerin Jen, die nach dem Tod ihres Mannes eine Fremde mit einigen Geheimnissen (Linda Cardellini) bei sich einziehenlässt.
Wenn Christina Applegates Jen ihrer neuen Freundin Judy erklärt, dass ihr Sohn in einem Singvogel eine Reinkarnation seines toten Vaters sieht, und selbst so offensichtlich nicht weiß, ob sie darüber jetzt lachen oder weinen soll, toppt das jeden Kelly-Bundy-Flachwitz um das hunderttausendfache. Und Jens Art, sich abzureagieren, die darin besteht, im Auto Screamo zu hören und obsessiv Headzubangen (?), führt Applegate so konsequent vor, als mache sie in ihrer Freizeit nichtsanderes.
Als Serie, die sich selbst zu ernst nimmt, funktioniert Dead to Me nicht
Die neue Serie ist für die Schauspielerin ein Befreiungsschlag. Ihre Übergänge von der zynischen, vom Geld ihrer Kunden verhärteten, perfekt gestylten Immobilienmaklerin zur trauernden Witwe und liebenden Mutter samt graugeweinter Augenringe und Wutanfälle sind glatt und lückenlos gespielt. Auch, wenn sie manchmal etwas konstruiert geschrieben wirken. Selbst die ebenfalls überzeugende Kollegin Cardellini ( Mad Men) hält nicht mit Applegate mit. Die Männer um die beiden Frauen herum sind entweder wirklich tot, oder derart charakterlose Pfeifen, dass sie kurzerhand in der Serie für tot erklärtwerden.
Applegate strahlt in der Serie, die sich zwischen Thriller, schwarzer Komödie und Drama nicht recht entscheiden kann, eine enorme Darstellerwucht aus. Nicht ganz genug, damit man die nervigen Plattitüden im Skript, die schwächeren Witze und den erwartbaren Plot komplett übersieht. Das nicht. Aber doch so viel, dass der komische Aspekt der Serie eindeutig überwiegt. Das ist Applegates Verdienst, denn als Serie, die sich selbst zu ernst nimmt, würde Dead to Me nichtfunktionieren.
Als lange verdiente Parade der beiden Hauptdarstellerinnen dagegen funktioniert sie sehr gut. Die Schöpferin der Serie, die amerikanische Comedian Liz Feldman, hat sich als mit ihnen zwei Frauen Mitte vierzig ausgesucht, deren Weg zur Seriosität sehr holprig war. Auch Linda Cardellini musste sich durch romantische Komödien und allerlei Scooby Doo-Mist kämpfen, bevor sie in Mad Men als Sylvia Rosen die willensstarke Schöne spielendurfte.
Dead to Me fehlt der um 360 Grad rotierende Baseballschläger-Zynismus eines Larry David oder das zehenspitzige Drama des Mad Men-Erfinders Matthew Weiner, um eine Serie zu sein, die im popkulturellen Gedächtnis länger als ein halbes Jahr hängen bleibt . Sehr sehenswert ist sie trotzdem. Nicht nur, weil man erlebt, wie Christina Applegate, die zwanzig Jahre lang fast zu Tode auf ihre Körperlichkeit reduziert wurde, sich befreit. Sondern auch wegen der paradiesischen Bilder, in denen Kameramann Daniel Moder die Westküste der USA, an der die Handlung spielt, festhält. Den kennen Sie nicht? Auch das ist nur eine Definitionsfrage: Er ist der Ehemann von JuliaRoberts.
Dead to Me, abrufbar bei Netflix*
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